Presseportal

?Alles muss auf den Tisch“

30 Jahre nach der Wiedervereinigung muss sich Deutschland endlich aussprechen. Sonst bleibt das Land im Nationalen gefangen. Ein Essay von Prof. Dr. Steffen Mau

Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt Universit?t Berlin und Autor des Buches ?Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“.
?
Die pers?nliche Einheitsbilanz der allermeisten Ost- wie Westdeutschen ist positiv. Für die Deutschen West bedeutete die Einheit das Ende der zwar oft in den Hintergrund gerückten, aber doch als unnatürlich empfundenen Teilung, für die Deutschen Ost das Zurücklassen von Unfreiheit, Bevormundung und Mangelwirtschaft sowie den ?bergang in eine Wohlstandsdemokratie. Ein Grund, nun allerorten das Glück der deutschen Einheit zu feiern, sollte man meinen. Doch hat sich ein unsicheres Sprechen über die Wiedervereinigung breitgemacht. Woher kommt die innerdeutsche Verdruckstheit bei diesem Thema?

Die gro?e Aussprache zur Deutschen Einheit - auch über die Fehler - ist bislang ausgeblieben

Zum einen haben die Ost- und Westdeutschen bis heute kein gemeinsames Narrativ gefunden. Je konkreter es wird, desto unterschiedlicher sind die ?Bilder der Einheit“. Zum anderen fehlt bis heute die gro?e Aussprache über die Wiedervereinigung samt Fehlern und problematischen Folgen.

Die Wiedervereinigung war in der Art und Weise, wie sie durchgeführt wurde, ein immanent entt?uschungsanf?lliger Prozess – für beide Seiten. Für die Ostdeutschen, die mit gro?er Euphorie ins Gemeinsame aufbrachen und mehrheitlich den schnellen Beitritt wollten, machte sich nicht lange danach ein Gefühl von Verohnm?chtigung breit. Es ging nicht nur alles sehr flott, pl?tzlich sa?en die Diskursdominanten, die Politikm?chtigen und die Finanzstarken woanders. Wohl gab es quasi über Nacht Gewinne an Freiheit und Wohlstand, zugleich fühlten sich viele überrollt. Die Ostdeutschen fingen ja gerade erst an, Gesellschaft zu gestalten, nun gab der Westen den Takt vor.

Wo die Friedliche Revolution die Massen mobilisierte, war mit der Einheit der Spielraum für die offene Aushandlung der gesellschaftlichen Parameter schon wieder geschrumpft. Die Blaupause West lie? dafür keinen Platz, was bei manchen zu Frust, nachgelagerter Abstandnahme und Zurücksetzungsgefühlen führte.

Die Wiedervereinigung war anf?llig für Entt?uschungen - auf beiden Seiten

Dem Westen wurde die Einheit schmackhaft gemacht, indem man sie als Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gestaltete. Transformation im Osten, Bestandsschutz im Westen – so lautete die Grundformel des politischen Prozesses. Hüben sollte sich nichts, drüben alles ?ndern. Um den Wandel im Osten zu bewerkstelligen, sandte man nicht nur die bew?hrten Institutionen und finanzielle Mittel, sondern lieferte Transfereliten gleich mit dazu. Allerdings blieb es eine Illusion, dass die Wiedervereinigung ganz ohne Rückwirkungen auf die eigenen Besitzst?nde und Regulationsweisen vonstatten gehen k?nne. Im Westen wunderte man sich dann darüber, dass wider Erwarten Gewohntes verloren ging.

Oft durch die Hintertür und ungeplant, aber doch so, dass sowohl die Bonner Republik wie auch der Rheinische Kapitalismus alter Pr?gung nach und nach verschwanden. Die politische Kultur ver?nderte sich, via Osten kamen auch einschneidende Ver?nderungen auf dem Arbeitsmarkt – wie der Niedriglohnsektor und die Liberalisierung der Arbeitsverh?ltnisse. Der Historiker Philipp Ther spricht von der Co-Transformation des Westens über den Umweg Osten.

Eine zweite Entt?uschung kam im Westen dazu: Die Anverwandlung des Ostens an den Westen gelang nur teilweise. Zwar wurden im Osten das Einparteiensystem und die Planwirtschaft abger?umt und die neuen Institutionenarrangements fassten Fu?, aber viele Kultur- und Mentalit?tspr?gungen blieben. Neue, transformationsbedingte gesellschaftliche Vernarbungen traten hinzu.

Liberale Milieus glauben, im Osten vor allem Volksdünkel zu erkennen

Vor allem liberale und kosmopolitische Milieus im Westen schauen oft nicht nur mit Besorgnis, sondern mit Widerwillen auf den Volksdünkel, den man im Osten auszumachen glaubt. Nicht nur das Erstarken der AfD, auch das geringere Institutionenvertrauen, Ressentiments gegenüber Zuwanderung und ethnonationalistische Bewusstseinsformen gelten als Indizien dafür, dass der Osten – oder Teile davon – noch nicht ?angekommen“ sei. Vor dieser Folie erscheinen die Ostdeutschen als ewig ?unzufriedenes Volk“ (Detlev Pollack), das sich trotz Wohltaten nicht glücklich einfügt.

Diese Spannungen und wechselseitigen Missstimmungen kommen nicht von ungef?hr. Sie haben etwas mit einem naiven und politisch mangelhaften Transformationsmodell zu tun. Viel zu wenig hat man verstanden, dass mit der Wiedervereinigung nicht nur Deutsche zueinanderkamen, sondern zwei sehr unterschiedliche gesellschaftliche Formationen. Die Unterstellung einer nationalen Gemeinschaft, die mit dem Wegfall von Grenze und Stacheldraht gleichsam naturwüchsig und friktionslos zusammenkommt, hat die vorhandenen Unterschiede maskiert.

Die Transformation einer Gesellschaft ist viel mehr als Institutionentransfer

Zudem ist die Transformation einer ganzen Gesellschaft eine viel anspruchsvollere Aufgabe als ein Institutionentransfer. Wenn sie stark von au?en angeleitet wird, ist entscheidend, ob es gelingt, die Menschen mitzunehmen. Gesellschaftliche Transformationen brauchen Beteiligung, pointierte gesellschaftliche Auseinandersetzungen über das Was und Wie, einen Sense of Ownership. Sonst kommen das selbstverantwortete Handeln, Mitmachen und Entscheiden abhanden. Die Dominanz des Westens, die zun?chst einseitige Ver?nderungszumutung und die erheblichen Flursch?den der ?konomischen Restrukturierung haben in den 1990er Jahren im Osten eine gesellschaftliche Duldungsstarre herbeigeführt. Es brauchte lange – zu lange –, bis diese sich entkrampfte, und mancherorten ist das bis heute nicht geschehen.

Da, wo dies aber gelingt, sehen wir vielleicht keine blühenden Landschaften, aber doch grünende G?rten. Da gibt es Innovation und Lebensmut, Stolz auf das Erreichte, vorzeigbare Aufbauleistungen und auch Ver?nderungsbereitschaft, kein ?notorisches N?rglertum“ und Erstarren in einem Opfergestus. Wenn es gilt, nach vorn zu blicken, muss man hier ansetzen. Dass die Abwanderung aus dem Osten gestoppt ist und nun ein leicht positives Wanderungssaldo in den Büchern steht, ist ein Anfang dafür, um aus einem Strudel von ?beralterung und Abwanderung herauszukommen.

Ostdeutsche Identit?t ist nichts Schlechtes. Heimat- und Zugeh?rigkeitsgefühle sind wichtig

Unter den West-Ost-Mobilen sind auch viele Rückkehrer, die mit Ideen und Erfahrung Altes neu bewegen k?nnen. Auch die lange als Bremsklotz der Einheit geschm?hte Ost-Identit?t mag, wenn sie nicht abgrenzend verstanden wird, hier Gutes bewirken, indem sie ein Gefühl von Heimat und Zugeh?rigkeit vermittelt, das mit Ostalgie nichts mehr gemein hat. Sie kann Menschen bewegen, dort, wo sie leben, anzupacken.

Seit der Wiedervereinigung sind 30 Jahre vergangen. Eine lange Wegstrecke, auf der die Unterschiede nicht verschwunden sind und vermutlich so schnell nicht verschwinden werden. Ob Einkommensgef?lle und Wohlstandskluft, ob politische Kultur und Mentalit?ten, ob Demografie und Produktivit?t: Auf den Kartierungen der Sozialforscher bilden sich Ost und West noch gut erkennbar ab. Zugleich hat sich vieles verbunden, vermischt und verwaschen: Biografien, Familien, Sozial- und Arbeitswelten, Kultur, politische Selbstverst?ndnisse. Und es w?chst die innere Differenzierung des Ostens. Wachstumsinseln stehen neben zurückfallenden Regionen, Zuwanderungszentren neben demografischer Entleerung. Mit diesen Ungleichzeitigkeiten umzugehen, wird wohl eine der kommenden Herausforderungen für Ostdeutschland sein.

Das wiedervereinigte Deutschland hat schon mehrere Krisen überstanden

Bei der innerdeutschen Nabelschau wird oft vergessen, was das wiedervereinigte Deutschland schon durchgemacht hat. Seit der Wiedervereinigung waren drei gro?e Krisen zu bew?ltigen: die Finanz- und Bankenkrise 2007/08, die Krise der Migrationspolitik 2015 (die im Grunde bis heute anh?lt) und die Coronakrise 2020. Alle haben dem Politikmodus des Krisenmanagements Vorschub geleistet und den gesellschaftlichen Stress erh?ht. Diese Krisen waren und sind eine kollektive Erfahrung des vereinten Deutschlands: Sie haben Fliehkr?fte hervorgerufen, aber auch neue Bezugs- und Problemhorizonte geschaffen.

Bei all diesen Krisen gab es Ost-West-Unterschiede in der Betroffenheit und der Artikulation von Interessen und Orientierungen, aber nicht so, dass ein Riss durch Deutschland gegangen w?re, der einzig entlang der alten Grenzen verlief. Im Gegenteil: In der Beurteilung der durch die Politik verantworteten Corona-Ma?nahmen scheinen Ost und West recht einmütig vereint. Sofern es politisch gelingt, solche Herausforderungen als Gemeinsames zu erkennen, k?nnen sie einheitsstiftend wirken. Die Krise als Vereinigungsgenerator.

Wir müssen die gro?e Aussprache angehen

Dort, wo das Gemeinwesen die kollektive Verantwortung anerkennt und sich nicht in den gesellschaftlichen Parzellen einrichtet, und nur da, wo die ?ffentlichen Institutionen mit Umsicht und Augenma? agieren und ihre Handlungsf?higkeit beweisen, kann auch das Institutionenvertrauen wachsen. ?30 Jahre danach: Die zweite Chance“, so betitelte der Philosoph Jürgen Habermas jüngst einen Aufsatz zur weltgeschichtlichen Z?sur von 1989/90. Auch er fordert, dass wir die gro?e Aussprache angehen, um zu einem gemeinsamen politischen Bewusstsein zu kommen.

Nach ihm sind aber die innerdeutsche und die europ?ische Einigung wie zwei kommunizierende R?hren miteinander verbunden. Der mit der Einheit verbundene politische Rückzug auf nationale Aufmerksamkeiten müsse überwunden werden, es brauche eine Verknüpfung zwischen deutscher und europ?ischer Perspektive. Der Aufstieg der AfD hat diesen Druck erh?ht. Der ?Schock von Erfurt“ ist ein gesamtdeutsches und sogar ein europ?isches Problem, führt er doch vor Augen, dass sich neue gesellschaftliche Konfliktlinien herausbilden, die Ost wie West betreffen und damit als europ?ische zu verstehen sind.

Das Heraustreten aus dem ausschlie?lichen Modus des Nationalen und die Verbindung mit europ?ischen Perspektiven müssten nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit auf der Agenda stehen. Weder die Krisen dieser Welt noch die vielf?ltig anstehenden Transformationen schleichen in nationalen Pantoffeln auf uns zu, sie sind europ?isch und global und schon l?ngst angekommen.

?

Dieser Text erschien am 2. Oktober zuerst in der Sonderausgabe '30 Jahre deutsche Einheit' des Tagesspiegel. Wir ver?ffentlichen den Text des HU-Professors Dr. Steffen Mau hier mit freundlicher Genehmigung der Tagesspiegel-Redaktion.

Link zum Artikel