?Wir brauchen mehr Anerkennung von Sorge“
Prof. Dr. phil. Christine Wimbauer ist Leiterin des Lehrbereichs und Dr. phil. Mona Motakef Gastprofessorin am Institut für Sozialwissenschaften. Ihre Forschung befasst sich mit Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverh?ltnisse.
Ihr Buch befasst sich mit unsicheren Lebensverh?ltnissen. Was ist damit gemeint?
Christine Wimbauer: Was durch Covid-19 nun die ganze Gesellschaft extrem zu spüren bekommt, pr?gt schon lange in weniger offensichtlicher Form das Leben vieler Menschen: wachsende Unsicherheit, einerseits im Job, was sich andererseits auf das soziale Umfeld auswirkt – und umgekehrt. 38 Prozent der Besch?ftigten in Deutschland haben keine volle und unbefristete Stelle. Etwa 12 Prozent der Erwerbsbev?lkerung lebt in einer verfestigten prek?ren Lage.
Steht und f?llt alles mit dem Job?
Mona Motakef: Der berufliche Status spielt eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft. Diese Sph?re ist wiederum eng verwoben mit unserem sozialen Leben, den Menschen die uns mehr oder weniger nahe stehen. Wir haben Interviews mit 24 Menschen geführt, deren Leben von Prekarit?t gepr?gt ist, die dadurch verwundbar sind. Wir wollten wissen, wo sie Anerkennung finden – und wo nicht.
Sie haben prek?r Besch?ftigte in Paarbeziehungen und ohne Paarbeziehungen befragt. Was macht hierbei den Unterschied?
Christine Wimbauer: Die meisten von uns wollen durch Erwerbst?tigkeit nicht blo? Geld verdienen, sondern suchen darüber auch Anerkennung. Der andere Lebensbereich, in dem wir das tun, sind die sozialen Zusammenh?nge au?erhalb des Jobs. Wenn man im Job nicht punktet, kann dieses Manko etwa auch die Partnersuche erschweren. Und Paarbeziehungen sind privilegiert. Rechtlich ist dies in der Ehe manifestiert. Man kann das aber auch im Alltag erleben. Wer als Single zu einer Hochzeit kommt, wird von anderen nicht selten bedauert. Nicht in einer Paarbeziehung zu leben, wird h?ufig als defizit?r gewertet.
Obwohl immer mehr Menschen ungebunden leben?
Mona Motakef: Trotz oder gerade wegen dieser Entwicklung wird romantische Liebe verkl?rt. Wenn es gut l?uft, kann eine Partnerschaft in unsicheren Umst?nden beiden enorm helfen. Exklusive Zweierbeziehungen sind aber anf?llig, f?llt eine Person weg, existiert das ganze Konstrukt nicht mehr – man steht pl?tzlich alleine da. Viele Menschen suchen jenseits von Paarbeziehungen nach alternativer Anerkennung. Das k?nnen Familie und Kinder sein, Freundschaften oder Spiritualit?t. Sorge für andere wird jedoch oft nicht wahrgenommen. So erhalten Eltern und Alleinerziehende wenig gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung dafür, dass sie sich um ihre Familie und Kinder kümmern.
Sie stellen auch Geschlechternormen in Frage, als einengend und festschreibend. Was bedeutet das konkret?
Christine Wimbauer: Dass Mann und Frau als Paar zusammenleben und Kinder gro?ziehen, ist geltende Norm, trotz mancher Liberalisierung. Damit verwoben sind Ansprüche an Geschlechterrollen: M?nner sollen die Familie ern?hren, Frauen sich um Kinder und pflegebedürftige Angeh?rige kümmern. Das funktioniert aber nicht mehr. Frauen wollen arbeiten und müssen es auch, damit das Geld reicht. Zugleich bleibt die famili?re Sorge ihr Job. Wir brauchen mehr fürsorgliche M?nnlichkeit. Wenn die M?nner sich bei Sorge und Pflege st?rker engagieren, entlastet das einerseits die Frauen. Andererseits kann dies den Druck von M?nnern nehmen, die ganze Familie alleine ern?hren zu müssen.
Wie lie?e die Prekarisierung der Gesellschaft sich abfedern?
Mona Motakef: Die Arbeitsbedingungen in der Erwerbssph?re müssten besser und sicherer werden. Zudem bedarf es unabh?ngig vom Markt einer umfassenden sozialen Sicherung. Die Gesellschaft sollte Sorge und Pfleget?tigkeiten im Vergleich zur bislang dominanten Erwerbsarbeit aufwerten: die Leistung derer, die sich etwa um Kinder, Pflegebedürftige oder Geflüchtete kümmern. Wir brauchen kreative Wochen- und Lebensarbeitszeitmodelle. Es würde zudem helfen, wenn sich neben Paarbeziehungen gr??ere, tragf?hige Verantwortungszusammenh?nge etablieren, zum Beispiel Ko-Elternschaften oder Mehrgenerationen-Projekte. Insgesamt schaffen wir es nur solidarisch durch die gegenw?rtigen prek?ren Zeiten.
Interview: Lars Klaa?en
Buch
Prek?re Arbeit, prek?re Liebe. ?ber Anerkennung und unsichere Lebensverh?ltnisse.
Christine Wimbauer, Mona Motakef
Campus Verlag 2020 (erscheint am 8. April)
Gebunden 29,95 Euro