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Der Blick, der niemals ruht

Zum 500. Todestag eines "Halbgotts" unter den Künstlern

Gemeinsam mit Raffael und Michelangelo geh?rt Leonardo da Vinci zu jenen Künstlern, die von dem ?Vater der Kunstgeschichte“, Giorgio Vasari, im 16. Jahrhundert zu Halbg?ttern gemacht wurden. Mit ihnen, so Vasaris These, seien die Kunst und die Einbildungskraft auf eine H?he gekommen, die der Nachwelt kaum mehr Entfaltungsfelder für die Forschung und Gestaltung lasse. Hierin liege ihr schier übermenschlicher Status. Vor allem zwei Werke haben seinen unausl?schlichen Ruhm begründet. Sein Mail?nder ?Abendmahl“ gilt als unübertreffliches Beispiel einer lebendigen Realisierung der Rauminszenierung, der Gestensprache und der Psychologie, und die ?Mona Lisa“ steht für das Geheimnis nicht nur einer Person, sondern der Malerei schlechthin.

Wenn Mut einen Namen hat, heisst er Leonardo da Vinci

Einzigartig aber ist Leonardo darin, dass er nicht nur als bildender Künstler in allen drei Gattungen – der Malerei, der Bildhauerei und der Architektur herausragte, sondern nie zuvor Gesehenes vor allem als Ingenieur, Anatom, Geologe, Biologe und als Spezialist in weiteren Berufsfeldern geschaffen hat. In einer immer wieder verblüffenden Beharrlichkeit, den Ph?nomenen unverstellt auf den Grund zu gehen, hat er geforscht und die Ergebnisse seiner Erkundungen in konsequenter Logik verbunden. Wenn Mut einen Namen hat, so hei?t er Leonardo da Vinci.

Der Legende nach gestorben in den Armen des K?nigs

Geboren im Jahr 1452 in dem kleinen St?dtchen Vinci bei Empoli, hat er, bei Andrea del Verrocchio ausgebildet, zun?chst in Florenz gearbeitet, um danach nach Mailand zu gehen. Er wechselte mehrfach zwischen Florenz, Rom, Mailand und weiteren St?dten wie Mantua und Venedig. Am 2. Mai 1519 starb er in Schloss Clou bei Amboise der Legende zufolge in den Armen des franz?sischen K?nigs Franz I. Im Moment des Todes bekundete diese Geste die Gleichrangigkeit des Herrschers und des Künstlers, wie sie in der gemeinsamen T?tigkeit, zu formen und zu gestalten und die Begrenzung der Zeit zu überwinden, begründet war.

Empfindsam und kaltblütig

Vor seinem ersten Aufenthalt in Mailand bei dem Herzog von Mailand, Lodovico il Moro, hat Leonardo im Jahr 1482 ein Bewerbungsschreiben verfasst, in dem die Kunst erst unter ferner liefen auftauchte, w?hrend seine Qualifikation, als Tiefbauingenieur Wasserstr?me zu lenken, Erdbewegungen durchzuführen, Kriegsger?te bislang unbekannter Qualit?t zu entwickeln und Flugger?te zu entwerfen, die vorderen R?nge einnahmen. Aber für Leonardo selbst wird die Frage der Hierarchie seiner T?tigkeiten zweitrangig gewesen sein. In seinen Schriften zum Wettstreit der Künste hat er die Malerei wohl aus dem Grund favorisiert, weil sie das allgemeine Prinzip der Blickanalyse am komplexesten verk?rperte. Mit ihr ist jene F?higkeit verbunden, die ihm bis heute den überragenden Rang vermittelt. Es war sein Blick, dem er niemals gestattete, sich stabil auf einem Motiv oder einer Erkenntnis auszuruhen, sondern der sich weder durch religi?se, ethische oder k?rperliche Widrigkeiten definierte Begrenzungen aufhalten lie?. In diesem Sinn war sein Auge von einer ebenso eindrucksvollen wie bedrückenden Neutralit?t. Empfindsam bis in die Subtilit?t psychologischer Spannungen, aber auch kaltblütig gegenüber den Effekten, die seine sichelnden Streitwagen und seine explodierenden Schrapnellgeschosse in den Reihen feindlicher Heere anrichten sollten.

Der Brechreiz war kein Problem

Diese Mischung aus einer kaum mehr steigerbaren Sensibilit?t und einer Bereitschaft zur Leidensf?higkeit durchzieht vor allem das Gebiet der Anatomie. Zwar begannen die Mediziner seiner Zeit ebenfalls zu sezieren, aber niemand zuvor hat wie Leonardo eine ?hnlich gro?e Zahl von Leichen zergliedert, um die inneren Bewegungsgesetze zu studieren. Seine Mahnung an einen angehenden Künstler kann als Motto über all seinen T?tigkeiten stehen. Wenn Du dem Sezieren nicht abgeneigt bist, so spricht Leonardo sein Gegenüber an, ?wird Dich vielleicht der Brechreiz davon abhalten; und wenn der Dich nicht abh?lt, dann vielleicht die Angst, zur Nachtzeit in Gesellschaft der zerstückelten, enth?uteten und grausig anzusehenden Toten zu verweilen; und wenn Dich das nicht abh?lt, dann fehlt dir vielleicht das Talent zum Zeichnen, das man für eine solche Darstellung braucht. Und wenn Du das Talent im Zeichnen hast, fehlt dir vielleicht die Perspektive; und wenn Du die hast, fehlt dir vielleicht die F?higkeit, die mathematischen Gesetze anzuwenden und die Bewegung und die Kraft der Muskeln zu berechnen.“ Probleml?sungen, das formuliert dieses Bekenntnis, erfordern komplexe F?higkeiten, die sich auf Einzelbegabungen nicht reduzieren lassen, und die auf Assoziationsverm?gen angewiesen sind. So erkannte Leonardo die Funktionsweisen der Sehnen und Muskeln wie Takelage von Segeln.

Nichts ist festgefügt

Was ihn in besonderer Weise antrieb, war seine Abneigung, Erkenntnisse als festgefügte Gegebenheiten anzuerkennen. Alles ist bei Leonardo beweglich, und Motorik ist ihm die Bedingung alles Lebendigen. Da er auch die Erde als ein lebendiges Wesen erachtete, waren ihm seine geologischen Studien wie auch seine Beobachtungen der Strudel des Wassers, des Flugverhaltens von V?geln und das Flirren der Atmosph?re einander verbundene Strukturen, die das Gesetz der permanenten Bewegung in immer neuen Auspr?gungen offenbarten.

Stichwortgeber für Matters of Activity

Mit dieser Suche nach der inneren Aktivit?t als Prinzip alles Lebendigen hat Leonardo dem Exzellenzcluster ?Matters of Activity“ der Humboldt-Universit?t ein Stichwort gegeben. Wenn in diesem Cluster nach der autonomen Aktivit?t von Bild, Raum und Materie gefragt wird, dann geht dies auf Leonardos Definition des Punktes zurück. Seine ?berlegung ist logischer Natur. Da es keine M?glichkeit gibt, den Punkt auf einen geometrischen Ort zu fixieren, weil praktisch wie auch theoretisch immer kleinere Einheiten gefunden werden k?nnen, die den Punkt noch st?rker auf die Spitze treiben, kann dieser nicht statisch, sondern allein als latent beweglich erfasst werden. In der logischen Radikalit?t, die Leonardo zu eigen war, definiert er den Punkt folglich als eine Bewegung zwischen dem Nichts und der Unendlichkeit. Leonardos unvergleichliche Malerei l?sst die Unbestimmtheit des Punktes und mit ihm die systematische Motorik der gesamten Welt in der nebelhaften Diffusit?t seiner Malweise aufscheinen. Für ihn, das Empfindungsorgan der Bewegung schlechthin, ist jedes Ph?nomen der Ausdruck einer latenten Metamorphose. Die Konkretion seiner Erkenntnisse beruht auf der Bestimmung permanenter Bewegung. Mit diesem Punkt stellte Leonardo dem Exzellenzcluster das Motto.

Autor: Prof. Dr. Horst Bredekamp

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