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Tango: Tanz mit Migrationsgeschichte

Von den Stadtr?ndern in Buenos Aires und Montevideo bis zu den R?ndern dieser Welt – die Geschichte des Tangos ist eine Geschichte von Migration, Exil und der Vermischung von Kulturen und Rhythmen. Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein, Historikerin an der Humboldt-Universit?t zu Berlin, erl?utert im Interview die Ursprünge des Tangos und zeigt, wie Migration seine Geschichte beeinflusst hat.

Schwarz wei?es Foto von Professor Liliana Ruth Feierstein
Prof. Dr.?Liliana Ruth Feierstein, Foto:?Daniel Grad

Frau Feierstein, wie entstand der Tango und wer hat ihn erfunden?

Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein:?Der Tango entstand in den Zwischenr?umen, an den Ufern, den R?ndern, den Rissen. Die Erfahrungen und Kulturen der Heimatvertriebenen, Migrant:innen und Verbannten aus allen Ecken in der Welt, die in den armen Stadtr?ndern von Buenos Aires und Montevideo aufeinander trafen, flossen in die Geschichte des Tangos ein.

So chaotisch wie die Immigrant:innen sich in den H?fen von Buenos Aires und Montevideo Ende des 19. Jahrhunderts vermischt haben, haben sich auch die musikalischen Einflüsse vermischt, die den Tango beeinflussten. Zu der?Habanera, die zwischen Kuba und Spanien kursierte, kamen die Rhythmen der?Mazurka?aus Polen und der europ?ischen?Polka?hinzu, auch der andalusische?Tango?mit seinen Gitano-Einflüssen flossen ein, genauso wie afrikanische Rhythmen, der afro-lateinamerikanische?Candombe?und die?Milonga. Dabei handelt es sich um popul?re T?nze: Die Enkel der Sklave:innen und armen Immigrant:innen erfinden Melodien, Rhythmen und Muttersprachen an beiden R?ndern des Río de la Plata neu. Dass Milieu, in dem der Tango entstand, wird in den sozialen Lebensumst?nden einiger der berühmtesten Tangoautoren der Zeit deutlich: Manuel Aróstegui war Angestellter in einem Lottogesch?ft in Montevideo; Juan Carlos Barzán ein Druckereiangestellter; Manuel Campoamor arbeitete als Bürogehilfe; Roberto Firpo als Landarbeiter; Vicente Greco verdiente sein Geld als Automobilmechaniker und Gerardo Mattos Rodríguez zog Gitarrist von Ort zu Ort.

Wie kam der Tango dann nach Europa?

Feierstein:?Auch die Geschichte des europ?ischen Tangos entsteht gewisserma?en im?Zwischen- und Grenzraum?des Ozeans. Einer Legende zufolge verteilten sich auf einer 1906 unternommenen Reise der Fregatte Sarmiento –?ein Schulschiff der argentinischen Marine, das über den Erdball navigierte und argentinische Produkte an internationalen H?fen zurücklie??– tausend Partituren des Tangos??La morocha?von Saborido und Villedo in den H?fen Europas. Und einmal in Europa angelangt, erlebt der Tango einen fantastischen Erfolg – und l?st ein Fieber aus, das mit H?hen und Tiefen bis in die heutige Zeit anh?lt: die Tangomanie.

Von Rodolfo Valentino zu Charles Chaplin und Groucho Marx, von Barcelona bis nach Berlin. Die argentinischen Orchester und Tangolehrer nehmen um ein Vielfaches zu. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sorgen die Argentinier in Paris für Furore. Neben der Tango-Musik ist es vor allem der Tanz, der diesen Eifer hervorruft: die??Umarmung stellt choreografisch eine absolute Neuheit dar. Zwar wurden in Europa der Walzer oder die Polka bereits paarweise getanzt, aber die Distanz und die Art und Weise der Kommunikation ist da nochmal anders. Gleichzeitig heben die Komplexit?t der Variationen, die Improvisationen sowie der??Dialog der Fü?e“ ihn von anderen bekannten T?nzen ab, die auf einer relativ monotonen Wiederholung des Grundschrittes basieren. Die stetige Erfindung von Figuren und die freie Entscheidung in Bezug auf die Musik – es ist üblich mitten im Tanz einige Momente zu pausieren – verstr?mten eine Aura der Freiheit, die von vielen herbeigesehnt wurde.

Und hat sich der Tango in Europa ver?ndert?

Feierstein:?Der Tango mit franz?sischem Akzent, der Salon-Tango, der Tango, wie man ihn nun in Europa, dem ?Zentrum‘, sieht und tanzt, ist nicht mehr die Stimme der politisch und sozial Marginalisierten. Europa sieht im Tango das, was es sehen will: das eigene ?Andere‘ und Verdr?ngte. Die südamerikanischen Orchester sind beispielsweise in Paris vertraglich verpflichtet, als Gauchos, südamerikanische Viehzüchter, verkleidet zu spielen, obwohl der Tango in den St?dten Südamerikas entstanden ist. Bis heute ist die?europ?ische?Geschichte des ?argentinischen‘ Tangos insbesondere eine Geschichte der Projektionen. Frankreich und Deutschland, Russland und Polen, selbst die Vereinigten Staaten formen den Tango auf ihre eigene Art und Weise. In Europa erh?lt dieser beispielsweise einen Bezug zur expliziten Sexualit?t und zum Tod, eine Verbindung, die im Süden nicht bekannt ist. Vielmehr behandelt der argentinische Tango gewisserma?en alles, was zu einem Leben geh?rt – und zwar oft genug den Schmerz.

Welchen Einfluss hatte schlie?lich die argentinische Milit?rdiktatur auf den Tango und seine Verbreitung?

Feierstein:?Nach den Staatsstreichen in Lateinamerika in den 1970ern – 1973 in Chile, 1974 in Uruguay, 1976 in Argentinien – kehren der Schmerz, die Exile und die Geschichten der Verbannten in den Tango zurück. Der Tango migrierte erneut mit seinen Geschichten von Schmerz und Nostalgie nach Europa. Mit der Ankunft der Exilierten in Europa Ende der 1970er Jahre erf?hrt der Tango eine Wiedergeburt, indem eine echte??Szene“ entsteht – eine Situation, die der ersten Phase sehr ?hnlich ist: Die Musik und der Tanz werden in einer ganz eigenen Interpretation geh?rt – wobei die Texte und Anklagen meist nicht verstanden werden. Es gibt nur wenige Menschen, die diese Dimension wahrnehmen: die Marginalit?t des Tangos als eine Geschichte des Schmerzes, und nicht als eine von Angebern und Prostituierten, wie sie in Europa in den Tango projiziert wird.

Was erschwert das Verst?ndnis des Tangos in Europa?

Feierstein:?Einer der Gründe liegt in der Komplexit?t der Texte begründet. Viele W?rter sind auf Lunfardo geschrieben: ein faszinierendes linguistisches Gewebe, das W?rter aller Immigrantengruppen – interessanterweise besonders der??randst?ndigen‘?Sprachen Katalanisch, Napolitanisch, Galizisch, Jiddisch, Sizilianisch, Romanes, – mit W?rtern aus afrikanischen und lokalen einheimischen Sprachen wie Guaraní oder Mapuche kombiniert. Eine der Strategien des Lunfardo ist auch das bekannte??vesre‘?von??al revés‘, zu deutsch??rückw?rts‘, im Sinne von??rückw?rts geschrieben‘. Die W?rter werden verdreht, damit ein Zuh?rer sie nicht versteht. Zum Beispiel wird aus??maestro‘??troesma‘?oder aus??amigo‘??gomía‘.?Die Welt, die die Texte des Tangos beschreiben, ist wie die Sprache selbst: ein chaotisches Babel, in dem letztlich alles??al vesre‘?auf den Kopf gestellt, ist.

Wo in der Welt – neben Buenos Aires – ist der Tango heute besonders beliebt?

Feierstein:?Tango wird heute fast überall auf der Welt geh?rt und getanzt. Besonders beliebt ist er aber derzeit in Finnland und Japan, wo sich mittlerweile schon recht eigenst?ndige Tango-Traditionen herauszubilden beginnen – Traditionen, die mit der frühen ?argentinischen‘ Geschichte des Tangos – selbst eine Geschichte der Vermischung und des Marginalen – wohl nur noch sehr wenig zu tun hat.??Der Geschichte des Tangos, die von den R?ndern kommt, l?sst sich dabei überall zuh?ren. Und im besten Fall l?sst sich auch seine Botschaft immer wieder neu verstehen.

Tango beim Open Humboldt Festival

Einen weiteren Einblick in die Migrationsgeschichte des Tangos gibt beim Open Humboldt Festival das Tango-Festival?PIAZZOLLA 2021 ?Migration in Bewegung – wie Tango um die Welt zog“.

Termine

Dienstag,?24.08.2021, 18:00 – 22:00

PIAZZOLLA 2021: Migration in Bewegung - wie Tango um die Welt zog

Musikalischer Vortrag, Internationale Tango Gala und?Milonga

Programm und Anmeldung

?

Mittwoch,?25.08.2021, 18:00 – 22:00

Workshops, Tanzkurse und Milonga

Open Air-Bühne, Campus Nord
Zugang über Philippstr. 13, 10115 Berlin

Programm und Anmeldung