?Wir leben in einer Gesellschaft mit feudalistischen Z¨¹gen¡°

Prof. Dr. Steffen Mau,?Foto: Matthias Heyde
Herr Mau, die EU beschert uns eine enorme Bewegungsfreiheit, der Begriff Globalisierung ist in aller Munde. Sie hingegen sagen, die Grenzen sind wieder da ¨C wenn auch in anderer Form. Was hei?t das?
Auf den ersten Blick scheinen Grenzen durchl?ssiger zu sein, als fr¨¹her und deshalb zu einem Relikt zu werden. Handels- und Produktionsketten wie Finanzstr?me erstrecken sich ¨¹ber die ganze Welt. ÈýÒÚÌåÓý¡¤(Öйú)¹Ù·½ÍøÕ¾ und kulturelle G¨¹ter verbreiten sich ebenso ungehindert. Auch Menschen sind so mobil wie nie zuvor. Doch gerade unter Bedingungen der Globalisierung setzen Grenzregime territoriale Kontrolle und Selektivit?t durch. Sie sind machtvolle Sortiermaschinen. In unserer heutigen Welt stellt sich weniger die Frage, wie alte Grenzen ge?ffnet werden oder verschwinden, sondern wie sich die Grenze ver?ndert und welche Sortierlogiken neue Grenzen bedienen.
Was etabliert sich statt Schlagbaum und Passkontrolle?
Die Grenze der Globalisierung ist eine andere als die des nationalstaatlichen Containers und des nationalgesellschaftlichen Territorialmodells des 20. Jahrhunderts. Staaten schlie?en sich verst?rkt zu regionalen Integrationsprojekten zusammen, die auch auf dieser Metaebene auf unterschiedliche Weise kooperieren. Neben der EU sind das unter anderem die NAFTA, die Mercosur oder ASEAN. Wir bekommen es mit diversen Kontrollorten, -technologien und -infrastrukturen zu tun. Dieses Ensemble kann Mobilit?t erm?glichen, kanalisieren oder verhindern: Wir erleben eine Polarisierung bei der Frage, welcher Bewegungsfreiraum welchen Personen gestattet wird.
Mit welchen Mitteln die EU ihre Au?engrenzen sch¨¹tzt, ist aber doch zum Beispiel ein sehr umstrittenes Thema.
Daran l?sst sich die Dialektik von De- und Re-bordering im Rahmen der Globalisierung beobachten. Die EU hat ihre Binnengrenzen immer durchl?ssiger gemacht. An ihren Au?engrenzen hingegen, wie am Mittelmeer, hat sie ein rigides und auf Abschottung setzendes Grenzregime aufgebaut. In diesem Jahr sind dort bereits ¨¹ber 1.000 Menschen bei dem Versuch umgekommen, von Afrika nach Europa zu gelangen. Regionale Integrationsprojekte wie die EU haben neue Zirkulationsr?ume geschaffen ¨C oberhalb des Nationalstaates, unterhalb der globalen Ebene. Sie stellen im Binnenverh?ltnis Offenheit her. Im Au?enverh?ltnis aber reproduzieren oder steigern sie sogar Schlie?ung. Zugleich sehen wir auch eine R¨¹ckkehr der Mauergrenzen: 1990 gab es zw?lf fortifizierte Grenzen weltweit, heute sind es ¨¹ber 70. An abgedichteten Grenzen findet man riesige Lager, in denen Menschen unter ?u?erst prek?ren Umst?nden leben ¨C etwa im griechischen Moria. Dem wird unter anderem damit begegnet, Kontrollen zunehmend von der Grenze weg zu verlagern. Es kommt zur Exterritorialisierung von Grenzkontrolle.
Wie kontrolliert man eine territoriale Grenze von einem ganz anderen Ort aus?
Die EU etwa hat mit Staaten in Afrika Vertr?ge abgeschlossen, um schon dort potenzielle Migrant:innen?abzufangen und auszuw?hlen, wer unter welchen Bedingungen einreisen darf. Wer aus bestimmten Staaten des afrikanischen, arabischen oder asiatischen Raums in die westliche Welt einreisen m?chte, wird schon vorab eingehend befragt. Auch aus Angst vor politischem Terror oder Kriminalit?t wird vielen ¨C vor allem jungen M?nnern ¨C die Einreise verweigert. Auf welcher konkreten Entscheidungsgrundlage dies passiert, erfahren die Betroffenen in der Regel nicht. Menschen aus der westlichen Welt hingegen haben eine deutlich gr??ere Bewegungsfreiheit. Wer zudem bereit ist, schon im Vorfeld seiner Reise weitreichende ÈýÒÚÌåÓý¡¤(Öйú)¹Ù·½ÍøÕ¾ von sich preiszugeben, kann sich als zertifizierter ?trusted traveller¡® zeitraubende Unannehmlichkeiten an Grenz¨¹berg?ngen ersparen und wird ¨C quasi auf der ?berholspur ¨C direkt durchgewunken.
Ist grenzenlose Globalisierung also lediglich das Privileg einer Minderheit?
Europa ist mit nur zehn Prozent der Weltbev?lkerung f¨¹r mehr als die H?lfte aller touristischen Reisen weltweit verantwortlich, Afrika f¨¹r nur drei Prozent bei 17-prozentigem Anteil an der Weltbev?lkerung. Beim Flugverkehr ist die Konzentration auf einige wenige noch frappierender: Der Anteil derer, die innerhalb eines Jahres ¨¹berhaupt fliegen, wird auf drei Prozent der Weltbev?lkerung gesch?tzt, von 80 bis 90 Prozent der Menschheit nimmt man an, dass sie in ihrem Leben noch nie ein Flugzeug betreten haben. Solche Verteilungsdaten sind ein wichtiges Indiz f¨¹r die ungleiche Partizipation an ?ffnungs- und Mobilit?tsprozessen. Global betrachtet leben wir in einer Gesellschaft mit feudalistischen Z¨¹gen, wo der Geburtsort dar¨¹ber entscheidet, wie viel Bewegungsfreiheit einem Menschen zugestanden wird. Das zeigt sich auch bei den Superreichen, von denen rund ein Drittel ¨¹ber eine zweite Staatsangeh?rigkeit verf¨¹gen. Zwei P?sse garantieren eine noch gr??ere Freiheit.
Welche Rolle spielt neben ?konomischen Faktoren die Digitalisierung?
Wir sind auf dem Weg hin zu Smart Borders. Ein biometrischer Scan k?nnte k¨¹nftig den Pass ersetzen. Das macht zun?chst vieles einfacher, birgt aber auch Gefahren. Was machen Staaten wie Russland oder China mit unseren biometrischen Daten ¨C legen sie vielleicht Datenbanken an? Auch in den westlichen Demokratien k?nnen sich die Kontrollbed¨¹rfnisse der Staaten verschieben. Unternehmen, die auf digitale Grenzsicherung und -kontrolle spezialisiert sind, bieten mittlerweile auch Anwendungen an, die sich mit Blick auf die Corona-Pandemie im Inland nutzen lie?en. Das k?nnten etwa Zugangskontrollen f¨¹r ?ffentliche Geb?ude sein, die automatisch erkennen, wer ein digitales Impfzertifikat auf seinem Smartphone mit sich f¨¹hrt. Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit werden auch beim Grenzmanagement an Bedeutung gewinnen.
Interview: Lars Klaa?en
Prof. Dr. Steffen Mau ist am Institut f¨¹r Sozialwissenschaften der Humboldt-Universit?t zu Berlin im Bereich Makrosoziologie als Lehrbereichsleiter t?tig. Sein Buch ?Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert¡°, ist ab?26. August im Verlag C.H.Beck erh?ltlich: Klappenbroschur, 189 Seiten mit f¨¹nf Abbildungen, 14,95 €.