?Diese Protestwelle ist au?ergew?hnlich“

Ein leeres Papier, das aus Protest auf die Buchstaben ?自由“
(?Freiheit“) geklebt wurde, die Teil der Motto-Tafel mit den
sozialistischen Grundwerten an der Xidian-Universit?t sind.
Foto:?A Chinese ID Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0
Weltweit sind laut der UNO-Flüchtlingshilfe mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht. In verschiedenen L?ndern wie im Iran und zuletzt auch in China gibt es Massenproteste, die sich gegen die Regierung richten. Dr. Daniel Fuchs vom Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universit?t gibt seine Einsch?tzung zur aktuellen Situation in China und zu den Protesten in verschiedenen chinesischen St?dten gegen die Null-Covid-Politik der Regierung.
In vielen chinesischen St?dten, unter anderem in Beijing und Shanghai, finden seit dem 26. November 2022 weitreichende Proteste gegen die Null-Covid-Politik der chinesischen Regierung statt. Wie ist die Bedeutung dieser Proteste einzusch?tzen?
Dr. Daniel Fuchs: Diese Protestwelle kann tats?chlich als au?ergew?hnlich bezeichnet werden. Allerdings ist für eine Einordnung wichtig zu betonen, dass ?ffentliche Proteste in China keine Seltenheit sind. Im Gegenteil: Sch?tzungen zufolge finden in China tagt?glich dutzende ?ffentliche Proteste statt. Demonstrationen und Streiks stehen, wenn man so m?chte, an der Tagesordnung und sie sind in der chinesischen Bev?lkerung ein weit verbreitetes Mittel, um der eigenen Stimme Geh?r zu verschaffen.
Die Protestwelle gegen die Null-Covid-Politik ist dennoch aus zumindest drei Gründen bemerkenswert: Erstens haben die Proteste gleichzeitig in zahlreichen St?dten im ganzen Land stattgefunden. Zweitens handelte es sich um klasssenübergreifende Proteste, da unterschiedliche gesellschaftlicheGruppenihren Unmut ?u?erten.? Proteste wurden sowohl von Wanderarbeiter:innen, Teilen der st?dtischen Mittelklassen, als auch von Studierenden und ethnischen Minderheiten getragen. Drittens wurden zumindest vereinzelt auch politische Forderungen ge?u?ert, die sich direkt an die Staats- und Parteiführung richteten. Diese drei Charakteristika waren in den vergangenen Jahrzehnten China nur ?u?erst selten zu beobachten. Denn in der Regel sind ?ffentliche Proteste in China auf das beschr?nkt, was die Soziologin Ching Kwan Lee als ?zellul?ren Aktivismus“ bezeichnet hat, d.h. kleinere Proteste von relativ kurzer Dauer mit konkreten, gegenstandsbezogenen Forderungen von einzelnen Gruppen, zum Beispiel Streiks von Arbeiter:innen für bessere Arbeitsbedingungen, Umweltproteste oder Proteste der l?ndlichen Bev?lkerung gegen Landenteignungen. Davon unterscheiden sich die Null-Covid-Proteste deutlich.
Viele Protestierende hielten wei?e Bl?tter in die H?he. Was hatte es damit auf sich?
Die wei?en DIN-A4 Bl?tter sind zum Symbol der Proteste geworden. Das Hochhalten dieser unbeschrifteten wei?en Bl?tter dient in erster Linie als Kritik an der staatlichen Zensur und dem staatlichen ?berwachungsapparat. Es ist ein wirksames Mittel, um Widerstand zu symbolisieren, sich gleichzeitig aber davor zu schützen, dass einem von staatlicher Seite verbotene Parolen zur Last gelegt werden k?nnen. Auch w?hrend der Proteste in Hongkong im Jahr 2020 wurden wei?e Bl?tter als Symbol des Widerstands verwendet.
Der Ausl?ser der Proteste war ein Wohnungsbrand in der Stadt Urumqi in der Provinz Xinjiang, bei dem mindestens zehn Menschen gestorben sind, mutma?lich auch deshalb weil Rettungsma?nahmen durch die Covid-Einschr?nkungen behindert worden waren. Wie erkl?ren Sie sich, dass dieser Vorfall zu Protesten in St?dten im ganzen Land geführt hat?
Für eine detaillierte Analyse der Hintergründe ist es meines Erachtens noch etwas zu früh. Ich denke, dass niemand, weder chinesische Kolleg:innen vor Ort noch Beobachter:innen im Ausland, damit rechnen konnten. Dennoch kann festgehalten werden, dass der Protestwelle bereits in den Monaten zuvor eine Zunahme an ?ffentlichen Unmuts?u?erungen über die Intensit?t der Null-Covid-Ma?nahmen vorausging.
Aufgrund der – nach offiziellen Angaben – im internationalen Vergleich sehr geringen Zahl an Todesf?llen im Zusammenhang mit Covid-19 in China, waren die Zustimmungswerte zu den Ma?nahmen der chinesischen Regierung in den ersten beiden Jahren der Pandemie sehr hoch. Sp?testens mit dem zweimonatigen Lockdown in Shanghai im Frühjahr 2022 wurden jedoch online zunehmend kritische Stimmen hinsichtlich der Null-Covid-Ma?nahmen und deren sozialen wie wirtschaftlichen Auswirkungen laut. Und diese Kritik hat im Herbst weiter zugenommen: ?ffentlicher Unmut wurde etwa ge?u?ert im Zusammenhang mit dem tragischen Tod von 27 Menschen in der südchinesischen Provinz Guizhou, die auf dem Weg in ein Quarant?nezentrum bei einem Busunfall ums Leben kamen. Ein weiteres Beispiel waren vermehrte Vorwürfe von Korruption lokaler Regierungsbeamter hinsichtlich der Auftragsvergabe von PCR-Tests.
Zudem, und das darf für eine Einordnung nicht übersehen werden, gingen den Demonstrationen Ende November auch Proteste von Wanderarbeiter:innen voraus - einer insgesamt etwa 300 Millionen gro?en Gruppe an Arbeitsmigrant:innen aus dem l?ndlichen Raum Chinas. Es ist sowohl Mitte November in der Metropople Guangzhou zu Ausschreitungen von migrantischen Besch?ftigten gegen erneute Lockdowns gekommen und es ereigneten sich ab dem 23. November Proteste im Werk des Elektronikherstellers Foxconns in der Stadt Zhengzhou. Das taiwanesische Unternehmen hat Produktionsst?tten in der ganzen Welt, die gr??te Fabrikanlage mit mehr als 200.000 Besch?ftigten ist jedoch jene in Zhengzhou, in der vor allem iPhones produziert werden. Die Gründe für diese Proteste waren etwa, dass neu eingestellte Besch?ftigte versprochene Bonuszahlungen nicht erhalten hatten und sie sich zudem aufgrund der Zust?nde in der von der Au?enwelt abgeschirmten Fabrikanlage vor einer Covid-Infektion fürchteten. Vor diesem Hintergrund des schon l?nger in unterschiedlichen Bev?lkerungsgruppen wachsenden Unmuts hat der Hochhausbrand in Urumqi das Fass zum ?berlaufen gebracht.
Wurde der Brand in Urumqi und dessen Auswirkungen von der Regierung also untersch?tzt? Und sind die Proteste ein Anzeichen dafür, dass das Vertrauen in die chinesische Staatsführung und Xi Jinping schwindet?
Am Tag nach dem Brand war auf WeChat und anderen Social Media Plattformen eine Emp?rung zu beobachten, die ich in der Form und geteilt von so vielen Menschen aus unterschiedlichen Milieus bisher noch nicht erlebt habe. Damit, dass die online ge?u?erte Kritik eine derartige Dynamik bekommt und auch zu ?ffentlichen Protesten führt, hat die Regierung offenbar nicht gerechnet.
Das Vertrauen in die Null-Covid-Politik der Regierung ist gesunken. Hierbei ist wichtig, dass die zunehmende Kritik sicherlich auch den unklaren und widersprüchlichen Signalen von der Staats- und Parteiführung geschuldet ist. Am 10. November etwa wurden von der Zentralregierung einige Lockerungen der Ma?nahmen in Aussicht gestellt. Nur kurz darauf wurden jedoch erneut in vielen St?dten strikte Lockdowns verh?ngt. Dies hat offenbar zu einer Perspektivlosigkeit unter Teilen der chinesischen Bev?lkerung beigetragen.
Die Forderungen in der Protestwelle richteten sich jedoch nicht grundlegend gegen jegliche Form von Covid-19-Ma?nahmen. Deshalb dürfen die Proteste in China auch nicht mit der Sto?richtung von Covid-19-Protesten in Europa und Deutschland verwechselt werden. Das w?re auch deshalb ein Fehler, weil die Rigidit?t von Lockdowns in China oder auch die st?ndige ?berwachung durch Corona-Apps und das damit verbundene Unsicherheitsgefühl schlichtweg eine andere Dimension hatte, als Menschen dies zum Beispiel in Deutschland erlebten. Hinzu kommen ?konomische Auswirkungen, die insbesondere ohnehin schon sozial benachteiligte Gruppen besonders stark treffen. Ein Indikator hierfür ist etwa die stark angestiegene Jugendarbeitslosigkeit, die in China mittlerweile bei etwa 20 Prozent liegt.
Viele Protestierende riefen ?Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit!” –?und ?Wir sind Bürger, keine Sklaven”. K?nnten diese Aussagen auf ein generelles Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung der chinesischen Gesellschaft hindeuten??
Es ist tats?chlich bemerkenswert und sehr mutig von den Protestteilnehmenden, dass neben relativ konkreten Forderungen hinsichtlich der Lockerung von Covid-19-Ma?nahmen auch politische Forderungen in Bezug auf Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit ge?u?ert wurden. Ich denke, die Erfahrungen mit wiederkehrenden, ?u?erst rigiden Lockdowns, andauernden Tests, Zwangsquarant?ne und der st?ndigen ?berwachung durch Corona-Apps hat zumindest für Teile der Bev?lkerung Fragen zur allgemeinen politischen Entwicklung im Land in zugespitzter Form aufgeworfen. Dazu geh?rt vermutlich ein Unbehagen darüber, dass Xi Jinping seine Machtposition auf dem 20. Parteitag im Oktober weiter einzementiert hat und für eine dritte Amtszeit als KP-Generalsekret?r best?tigt wurde. So geht der Slogan ?Wir sind Bürger, keine Sklaven“ auch zurück auf eine Protestaktion vor dem Parteitag in Beijing.
Forderungen nach einem Rücktritt von Xi Jinping, die nur vereinzelt und zwar meines Wissens ausschlie?lich w?hrend eines Protests in Shanghai ge?u?ert wurden, sollten nicht überbewertet werden. Aber aus Sicht von Partei und Staat ist die Situation insofern eine gro?e Herausforderung, als dass das bisherige Festhalten an der Null-Covid-Politik direkt mit der Führung in Beijing assoziiert wird. Hier unterscheidet sich die aktuelle ?ffentliche Kritik auch von jenem Unmut, der zu Beginn der Pandemie Anfang 2020 in Wuhan ge?u?ert wurde und prim?r auf das lokale Krisenmanagement fokussiert blieb.
K?nnen die Proteste helfen, auf fehlende Menschenrechte in China hinzudeuten, oder Bewusstsein dafür in der Bev?lkerung zu schaffen?
Indem Forderungen nach Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit ge?u?ert wurden, haben die Proteste dies bereits getan. Allerdings sehe ich bisher noch keine Anzeichen dafür, dass die Proteste dazu geführt h?tten, dass nun in breiten Teilen der Gesellschaft Kritik an der Situation in Xinjiang geübt oder explizit Solidarit?t mit Streiks von Wanderarbeiter:innen gezeigt wird. Das sind gewisserma?en rote Linien - werden diese überschritten, so kann die entsprechende Repression sehr hart ausfallen. Das sollte man nicht vergessen – gerade, wenn man aus der Ferne auf die Entwicklungen blickt. Der Fall der Proteste beim Apple-Produzenten Foxconn zeigt jedoch, dass hier internationale Solidarit?t n?tig w?re, da es letztlich um Produktionsbedingungen von Waren geht, die hier im globalen Norden konsumiert werden.
Studierende haben zahlreich an den Protesten teilgenommen, u.a. an der Elite-三亿体育·(中国)官方网站 Tsinghua in Peking. Wie erkl?ren Sie sich diese Proteste von Studierenden? Hat Sie das überrascht?
Die Mobilisierung von Studierenden hat mich weniger überrascht. Einige Beobachter:innen haben zwar zurecht darauf hingewiesen, dass Studierende an 三亿体育·(中国)官方网站n, insbesondere an Elite-Universit?ten wie der Tsinghua-Universit?t oder der Peking-Universit?t politisch besonders streng kontrolliert werden. Allerdings sollte man nicht au?er Acht lassen, dass sich Studierende in der Vergangenheit immer wieder kritisch in Bezug auf soziale Fragen ge?u?ert haben und zum Teil entsprechend aktiv wurden. Ein Beispiel hierfür ist die Metoo-Bewegung und insgesamt Aktionen von feministischen Aktivist:innen in China, die ma?geblich von Studierenden getragen wurden. Ein anderes Beispiel der letzten Jahre ist eine Solidarit?tskampagne, die Studierende von mehreren Universit?ten 2018 im Falle eines Arbeiter:innenprotests organisiert haben.
Mittlerweile sind die Proteste abgeebbt, und die chinesische Regierung hat landesweite Lockerungen der Coronavirus-Ma?nahmen verkündet. Wie sch?tzen Sie diese jüngsten Entwicklungen ein??
Einerseits wurde auf die Proteste mit repressiven Ma?nahmen reagiert. Anderseits sind die nun angekündigten Lockerungen durchaus als Zugest?ndnis an die Proteste zu verstehen. Diese Verbindung von gezielter Repression und bedingten Zugest?ndnissen ist per se keine Besonderheit, sondern auch in einem autorit?ren Staat wie China h?ufig als Reaktion auf soziale Proteste zu beobachten.
Die mit den verkündeten Lockerungen in Aussicht gestellte Abkehr vom strikten Null-Covid-Kurs ist jedoch mit neuen Herausforderungen für die Führung in Beijing verbunden. Epidemiologen warnen vor den m?glichen Auswirkungen einer Zunahme von Infektionen in China, vor allem weil ein gro?er Teil der ?lteren Bev?lkerung nur unzureichend geimpft ist. Nach Jahren eines staatlichen Diskurses, der unermüdlich die ?berlegenheit der Null-Covid-Politik hervorgehoben hat, wird es zum anderen auch eine Herausforderung, den Kurswechsel nun überzeugend zu erkl?ren. Die performanzbasierte Legitimit?t der chinesischen Regierung wird weiterhin eng daran gemessen werden, wie erfolgreich sie mit der Krisensituation umgeht.
Die Fragen stellte Kathrin Kirstein.