?Die Paradigmen der Sp?tmoderne haben neue Probleme geschaffen“

Vincent August, Foto:?Esra Eres
Herr August, von abstrakten Begriffen wie ?Netzwerk-Denken“ und ?technologischem Regieren“ schlagen Sie einen Bogen zur Wirtschafts- wie zur Flüchtlingskrise und zum Populismus. Was kam dabei heraus?
Vincent August: Ob Politik, Wirtschaft oder bürgerliches Engagement: ?berall ist von Netzwerken die Rede. Ich wollte wissen: Warum wird ausgerechnet dieses Bild st?ndig genutzt, um unsere Gesellschaft zu beschreiben? Und wie ver?ndert das Denken in diesem Bild unsere Realit?t? Deswegen habe ich in einem gro?en Bogen den Wandel des Regierungsdenkens seit 1945 untersucht und darin den Aufstieg des Netzwerk-Denkens verortet.
Die Netzwerk-Begriffe kamen mit einem ganzen Set an Begriffen und Narrativen aus der Kybernetik, wo sie eigentlich das Verhalten von Menschen und Maschinen neu beschreiben sollten. Damit lieferten sie die Grundlagen für PC und Internet. Aber diese neue Ideenwelt diffundierte auch in Debatten um die Steuerung von Unternehmen oder die Rolle des Staates. Netzwerk-Denken l?ste das Bild des souver?nen Staates mit gro?en M?nnern an der Spitze ab. Es kritisierte die ?alten“ repr?sentativen Institutionen wie Parteien oder klassische Gewerkschaft und warb für kleinere, ?offenere“, ?flache“ und ?flexiblere“ Organisationsformen. Das hei?t: Unsere heutige Netzwerk-Gesellschaft ist nicht einfach ein Resultat des Internets oder von Computern, wie viele glauben. Berater:innen und Intellektuelle wie Foucault oder Luhmann griffen gezielt auf die Kybernetik zurück, um unser Regierungsdenken grundlegend zu ver?ndern.
Wie wirkte sich das auf unsere gesellschaftliche Realit?t aus?
August:?Heute hei?t es oft, dass neoliberales Denken die Gesellschaft beherrsche, wo jedes Individuum für sich alleine k?mpft und deswegen nur noch an den eigenen Vorteil denken muss. Der Einfluss des Neoliberalismus l?sst sich tats?chlich beobachten, man kann ihn historisch sehr genau nachzeichnen. Aber daneben steht noch das ganz anders gelagerte Paradigma des Netzwerks. Kürzlich zum Beispiel kaufte ich ein paar Br?tchen. Auf der Tüte, die man mir reichte, wurde für Jobs bei der B?ckereikette geworben. Die Schlüsselw?rter darauf lauteten ?Teamplayer“, ?Lernbereitschaft“, ?Konnektivit?t“. Die Br?tchentüte ist ein Symptom des Netzwerk-Denkens: Wir sind als Individuen, keine isolierten Einzelk?mpfer, sondern Knotenpunkte. Als vernetzte Subjekte sollen wir mit anderen kooperieren, immer für neue Impulse aus dem Netzwerk offen sein und uns so aktiv selbst organisieren. Unsere Gesellschaft ist von einem Mit-, Neben- und Gegeneinander von Neoliberalismus und Netzwerk-Denken gepr?gt. Nur wenn wir hier genau differenzieren, k?nnen wir auch wirkungsvollere L?sungen für akute Probleme und Auseinandersetzungen finden.
Wohin führt Ihre Forschung auf Basis dieser neuen Erkenntnisse?
August:?Mein Buch fügt sich in die Forschung über den Strukturwandel der Moderne ein. Die Rolle des Netzwerk-Paradigmas k?nnte jetzt st?rker in den Fokus rücken. Wenn man etwa Ph?nomene wie das ersch?pfte Selbst untersucht, dann kann man das nicht einfach auf den Neoliberalismus zurückführen. Man muss auch fragen, welchen Anteil das?Netzwerk-Denken hat.
Ein wichtiger Bereich, mit dem ich mich besch?ftige, ist auch die Digitalisierung. Hier haben nicht nur die Akteure im Feld, sondern auch viele Forscher:innen für das Netzwerk-Modell ?geworben“. Das muss man reflektieren und fragen: Ist das wirklich eine zwingende Entwicklung? Welche anderen Visionen einer digitalen Gesellschaft gibt es? Man muss also die Konkurrenz um die Regierungsmodelle der Zukunft analysieren – und die gesellschaftlichen Konflikte verstehen, die dabei auf uns zukommen.
Digitalisierung rückte hierzulande im Zuge der Pandemie stark in den Fokus. Wie finalisiert man als Postdoc in Corona-Zeiten solch ein Buch?
August:?Der unmittelbare Austausch mit Kolleg:innen fehlt, auch der Zugang zu Quellen ist nicht immer einfach. Aber dass ich direkt nach der Dissertation auf einer neuen Stelle weiterarbeiten konnte, hat vieles ungemein erleichtert. Das ist in der Wissenschaft ja nicht selbstverst?ndlich. Interessanter finde ich aber die gesellschaftlichen Folgen von Corona.?
Welche Erkenntnisse ziehen wir denn aus Ihren Forschungen im Corona- und im Super-Wahljahr?
August:?Die Pandemie überschattet das gesamte politische Geschehen. Der Staat hat sich prinzipiell als sehr viel steuerungsf?higer erwiesen, als neoliberale und Netzwerk-Modelle immer behauptet haben. Es ist also viel st?rker eine Frage des?Selbstverst?ndnisses, welche Aufgaben Politik übernehmen kann oder wo der Staat intervenieren will.
In der Vergangenheit fehlte ein kollektiver Gestaltungsanspruch, und das haben sich Rechtspopulisten mit ihrem ?take back control“ zunutze gemacht, im Grunde ein verkümmertes Souver?nit?tsideal. Aber das zeigt nur: Diese Selbstverst?ndnisse geraten seit einiger Zeit wieder ins Rutschen. Die Paradigmen der Sp?tmoderne haben neue Probleme geschaffen, auf die sie bisher nur bedingt antworten k?nnen. Die gro?e Hoffnung auf eine solidarische Gesellschaft und mehr Zusammenhalt in der Anfangsphase der Pandemie kam daher nicht von ungef?hr. Sie überdeckte aber nur für kurze Zeit die vielen scharfen Konflikte, die unsere Gesellschaft gerade verhandelt – um Ungleichheit, Migration, Klimawandel oder das Verh?ltnis von Stadt und Land, ein Konflikt, den das Netzwerk-Denken mit seinem Blick auf urbane Knotenpunkte oft schlicht ausgeblendet hat. Diese Problemlagen tragen die Signatur des Paradigmenwechsels, den ich beschreibe.?Eine entscheidende Frage wird sein, wie wir sie bearbeiten k?nnen, ohne dass sich die Gesellschaft darüber polarisiert.
Vincent August ist wissenschaftlicher Mittarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie. Sein Buch ?Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik“ (transcript, 2021) ist auch kostenlos als?PDF zum Download?erh?ltlich.
Interview: Lars Klaa?en