Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Grenzen
Verfassungs- und Europarechtler Christian Calliess, Freie Universit?t
Unser Grundgesetz erkl?rt in Art. 5 Abs. 3 GG : "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei". Der besondere Schutz der Wissenschaft basiert auf dem auch vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonten Gedanken, dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckm??igkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient. In verfassungsrechtlicher Perspektive ist Wissenschaft durch den nach Inhalt und Form als ernsthaft und planm??ig anzusehenden Versuch zur Ermittlung der Wahrheit definiert. Daran knüpft die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und anderen Formen der Erkenntnisgewinnung und Kommunikation an. Wissenschaft zeichnet sich aus durch Rationalit?t. Nicht vom Begriff der Wissenschaft erfasst werden damit zum Beispiel Verschw?rungstheorien und Pseudo-Wissenschaften.
Forschungs- und Lehrfreiheit, Publikationsfreiheit und ihre Grenzen
Ganz im Sinne des Humboldt’schen Ideals schützt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zum einen die Forschung. Diese umfasst die freie Wahl der Fragestellung und Methode, die Bewertung der Forschungsergebnisse sowie deren Verbreitung in Form von Publikationen, Vortr?gen und anderen Formaten. Zum anderen ist die Freiheit der Lehre geschützt, also die wissenschaftliche Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse. Lehrende sind damit grunds?tzlich frei in der Bestimmung des Inhalts, des Ablaufs und der Wahl der methodischen Ans?tze in ihren Lehrveranstaltungen.
Die Wissenschaftsfreiheit gilt für alle, die eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise t?tig sind oder t?tig werden wollen. Geschützte Personen sind nicht etwa nur Professorinnen und Professoren, sondern auch Habilitierende, Promovierende und Studierende, etwa bei der Forschung im Rahmen einer Bachelor- oder Masterarbeit. Geschützte R?ume sind nicht nur Universit?ten, sondern auch au?eruniversit?re Forschungseinrichtungen und Privathochschulen. Diese k?nnen sich aber nur gegenüber dem Staat auf ihre Wissenschaftsfreiheit berufen, nicht aber gegenüber ihren Forschenden und Lehrenden, denn im Verh?ltnis zu diesen sind die 三亿体育·(中国)官方网站n selbst verpflichtet, die Wissenschaftsfreiheit zu achten. Beispiele für rechtfertigungspflichtige Beschr?nkungen der Wissenschaftsfreiheit sind das Verbot bestimmter Forschungsprojekte bzw. -themen (z. B. Zivilklauseln), besondere Genehmigungserfordernisse für die Forschung (z. B. Ethikkommissionen) oder auch universit?re Vorschriften hinsichtlich der Verwendung einer bestimmten Sprache.
Zugleich trifft den Staat eine Schutzpflicht gegen Beeintr?chtigungen der Wissenschaftsfreiheit durch private Dritte. Und schlie?lich hat der Staat ein unabh?ngiges und funktionierendes Wissenschaftssystem zu gew?hrleisten. Zugleich haben die Universit?ten Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen freie Forschung und Lehre praktisch m?glich ist.
Auf den ersten Blick wird die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz zwar ohne Vorbehalte und damit scheinbar absolut gew?hrleistet. Grenzen k?nnen sich jedoch aus anderen Schutzgütern der Verfassung ergeben. Hierzu z?hlt beispielsweise der Schutz der Grundrechte Dritter oder auch der Umwelt- und Tierschutz. Gefordert ist dann eine Abw?gung mit dem Ziel, einen schonenden Ausgleich der Interessen herbeizuführen. Einzig für die Lehrfreiheit gibt es mit der Verfassungstreue eine explizite Schranke, sodass Lehrveranstaltungen nicht über wissenschaftlich fundierte Kritik am Grundgesetz hinaus zur verfassungsfeindlichen Agitation missbraucht werden dürfen. Damit korrespondiert die politische Treuepflicht der verbeamteten Professorinnen und Professoren, die die geltende Verfassungsordnung als schützenswert anerkennen, sich zu ihr bekennen und für sie eintreten müssen. Hingegen kommt dem beamtenrechtlichen M??igungsgebot nur dort eine Bedeutung zu, wo sie sich jenseits ihrer Fachgrenzen ?u?ern.
Abgrenzung zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Leitlinien einer komplexen und sensiblen Gratwanderung
Zwischen Wissenschaftsfreiheit einerseits und der in Art. 5 Abs. 2 GG geschützten Meinungsfreiheit anderseits gibt es ?berschneidungen, beide stellen für die Demokratie bedeutsame Kommunikationsgrundrechte dar. Eine Abgrenzung ist notwendig, da die Meinungsfreiheit im Vergleich zur Wissenschaftsfreiheit leichter eingeschr?nkt werden kann. Für den Staat und die Universit?t ist es ?einfacher“ auf die ?u?erung eines Wissenschaftlers zu reagieren, wenn es sich bei dieser um eine Meinung und nicht um eine wissenschaftliche ?u?erung handelt. Problematisch ist beispielsweise, wenn von Professoren Verschw?rungstheorien unter dem Schleier der Wissenschaftlichkeit verbreitet werden. Dabei ist eine Grenzziehung nicht einfach, was es auch für Hochschulleitungen schwierig macht, auf die ?u?erungen ihrer Hochschulmitglieder – z. B. durch eine ?ffentliche Positionierung oder Distanzierung – zu reagieren. Meinungen sind in erster Linie Werturteile. Sie sind unabh?ngig davon geschützt, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind oder als wertvoll oder wertlos, gef?hrlich oder harmlos eingesch?tzt werden. Auch Tatsachenbehauptungen werden geschützt, soweit sie Voraussetzungen der Meinungsbildung sind und nicht bewusst unwahr als Lüge ge?u?ert werden. Wissenschaftliche ?u?erungen zeichnen sich demgegenüber gerade durch ihre Rationalit?t aus, sie haben einen objektiven Richtigkeitsanspruch, der eng mit der Expertise des Faches verknüpft ist. ?u?ert sich also z. B. ein Wissenschaftler au?erhalb seiner eigenen fachlichen Qualifikation, deutet dies eher auf eine Meinungskundgabe, nicht aber auf eine wissenschaftliche ?u?erung hin. Die Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen ?u?erung und einer Meinungskundgabe ist in einer Zeit, in der die Wissenschaft eine zunehmend pr?sente Rolle in der ?ffentlichkeit einnimmt und es vermehrt dazu kommt, dass die Universit?t zum Austragungsort politischer Konflikte wird, von besonderer Relevanz.
Damit ist zugleich ein weiteres Spannungsverh?ltnis angesprochen, das das Verh?ltnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungs- und Demonstrationsfreiheit im Kontext der Universit?t anspricht. Mit Protesten auf dem Campus oder im H?rsaal wenden sich Studierende mitunter gegen Lehr- oder Vortragsveranstaltungen, deren personale Zusammensetzung oder die darin ge?u?erten Ansichten, manchmal fordern sie dabei ein bestimmtes Verhalten der Universit?tsleitung ein. Die Versammlungsfreiheit gilt auch auf dem Campus ?ffentlicher Universit?ten, nicht aber in H?rs?len und Seminarr?umen, jedenfalls wenn sie für Lehrveranstaltungen genutzt werden. Hier gilt "nur" die Meinungsfreiheit.
Ma?nahmen gegen Studierendenproteste auf dem Campus der Universit?t seitens der Polizei greifen zwar in die Versammlungsfreiheit der Studierenden ein, sie k?nnen jedoch insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit vor St?rungen in Vorlesungen oder Vortragsveranstaltungen dienen. Mit dieser staatlichen Schutzpflicht korrespondiert das Hausrecht der Universit?tsleitung, das an die Fachbereiche und Professuren delegiert sein kann. Im Rahmen der Abw?gung ist insbesondere das Ausma? der St?rung der Lehrveranstaltung miteinzubeziehen. Relevant ist beispielsweise, ob es sich um eine kurze Ansage vor oder nach einer Veranstaltung handelt oder aber deren Durchführung insgesamt gest?rt oder gar verhindert wird. Es geht um Verh?ltnism??igkeit. Denn der demokratische Rechtsstaat pr?gt auch die Rahmenbedingungen der Wissenschaftsfreiheit.