Alina Gromova
Humboldt-Preis 2013 für ihre Dissertation - Sonderpreis "Judentum und Antisemitismus"
Urbane R?ume und Praxen. Junge russischsprachige jüdische Einwanderer in Berlin.
Verortet im Raumparadigma, untersucht die Forschung neue Formen des Jüdischseins bei jungen Erwachsenen, die als Kinder oder Jugendliche seit den sp?ten 1970er Jahren aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgerepubliken nach Deutschland eingewandert sind und heute in Berlin leben. Es handelt sich um eine Generation, die mindestens in zwei L?ndern sozialisiert wurde und ihre jüdische Zugeh?rigkeit im Zusammenhang mit anderen Identit?ten wie russisch, ukrainisch, lettisch, postsowjetisch, aber auch deutsch und russisch-orthodox aushandelt. Dazu wurden fünfzehn junge Erwachsene ein Jahr lang durch ihren Berliner Alltag an die Orte begleitet, an denen sich ihr religi?ses und kulturelles Leben, ihre Individualit?t und Gemeinschaftsbildung abspielen. Durch ausführliche Interviewzitate, Notizen aus den Feldtagebüchern und Beschreibungen der gemeinsamen Stadtspazierg?nge wird sichtbar, wie sich ein lockerer und ungezwungener Umgang mit jüdischer Symbolik, jüdischer Essenstradition, jüdischen Kleidungsvorschriften und anderen Elementen der jüdischen Lebensweise entwickelt, ein Umgang à la koscher light.
In einzelnen Kapiteln der Arbeit wird der Leser an unterschiedliche Orte wie jüdische Treffs, Partys und Wohnungen, Berliner Stadtteile wie Kreuzberg, Marzahn und Charlottenburg gebracht und mit Selbstbildern konfrontiert, die sich einer eindeutigen Einordnung in ethnische und religi?se Kategorisierungen entziehen. Anhand von Berührungen zwischen kulinarischen, modischen und musikalischen Geschm?ckern der jüdischen, russlanddeutschen, türkischen und arabischen Traditionen, die unterschiedliche Berliner Stadtteile pr?gen, wird eine g?nzlich neue Definition des Jüdischen herausgearbeitet, die sich an dem Urbanen orientiert.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Forschung über jüdisches Leben in Deutschland sich bisher haupts?chlich mit der historischen Betrachtung der Vergangenheit auseinandersetzt, l?sst sich mit einer Ethnographie der jüdischen Gegenwart eine disziplinübergreifende Diskussion darüber er?ffnen, inwiefern das jüdische Leben in Deutschland heute zu einer Normalit?t geworden ist. Die Betrachtung der jüdischen Erfahrung als einer r?umlichen und territorialen Erfahrung im Gegensatz zur sprichw?rtlichen ?Heimatlosigkeit“ und ?Ortslosigkeit“ der Juden rückt den Kontext der Globalisierung, Migration und Urbanit?t in den Mittelpunkt der Forschung und erm?glicht dadurch neue Erkenntnisse. Dabei wird insbesondere ein Wert darauf gelegt, die jüdische Erfahrung nicht allein aus der Perspektive der Ethnicity Studies zu betrachten, sondern an der Schnittstelle zwischen Urban Anthropology, Jewish Studies, Migrationsforschung und Jugendkulturforschung als eine urbane Erfahrung der zweiten Moderne aufzufassen.