Una Ulrike Sch?fer
Humboldt-Preis 2013 für ihre Masterarbeit
"Leichen im Sarge vor Entwendung zu sichern." Vom Umgang mit dem menschlichen K?rper nach seinem Tod. Gro?britannien, 1800–1850.
Im Jahr 1823 schien es dem Hosenh?ndler John Hughes von gro?er Wichtigkeit, ein Patent anzumelden, um ?Leichen im Sarge vor Entwendung zu sichern.“ Obwohl Antragsteller eine gleicherma?en langwierige wie kostenintensive Prozedur durchlaufen mussten, kam es innerhalb weniger Jahre zu einer ganzen Reihe ?hnlicher Patente. Die Schutzma?nahmen galten jedoch nicht der Abwehr von Tierfra? oder der alten Angst vor Wiederg?ngern. Die Lektüre zeitgen?ssischer Printmedien macht unversehens auf ein makaberes Problem aufmerksam: dem massenhaften Diebstahl von Leichen.
Mit der Jahrhundertwende führten fortschrittliche Erkenntnisse zum Ausbau des medizinischen Sektors und auch zu einem erh?hten Bedarf an Leichen zu anatomischen Zwecken. In den oft jahrhundertealten Gesetzen war die unwürdige Sektion des menschlichen K?rpers allein M?rdern vorbehalten. Doch deren verschwindend geringe Zahl konnte den Bedarf der vielen neu gegründeten medizinischen Einrichtungen keineswegs decken. Infolgedessen sahen sich viele Mediziner gezwungen, auf die Dienste von Leichendieben zurückzugreifen, deren n?chtliche Raubzüge bei der ?ffentlichkeit für Entsetzen und zunehmend gewaltt?tige ?bergriffe sorgten.
Fortw?hrend wuchsen Unverst?ndnis und? Ablehnung gegenüber der Regierung, die weder gegen das zwielichtige Bündnis der Mediziner und Leichendiebe, noch gegen die juristische nullius in bonis-Formel vorging, die dem toten K?rper jeglichen materiellen Wert absprach: der Diebstahl einer Leiche war im juristischen Sinne kein Diebstahl.
Im Gegensatz dazu wurden dem Leichnam in anderen Bereichen unterschiedlichste Werte – emotionale, religi?se, ?konomische, epistemische – eingeschrieben, was zwangsl?ufig zu Konflikten führte. Wegen des Gefühls juristischer Hilflosigkeit entwickelten sich besonders im privaten Bereich konkrete Verhaltenspraktiken, die in steter Wechselbeziehung zu den Aktivit?ten der Leichendiebe standen, die schlie?lich einen Markt für die patentierte Leichensicherung ?ffneten.
Die kulturhistorische Rekonstruktion der komplexen Verflechtungen jener unvereinbaren medizinischen, juristischen und sozialen Diskurse bildet den Schwerpunkt der Arbeit. Die verh?ngnisvolle Diskrepanz zwischen moralisch gepr?gten Idealvorstellungen und der durch kontr?re Ansprüche und Praktiken gepr?gten Wirklichkeit beim Umgang mit den Toten soll in ihrer perspektivischen Vielfalt verdeutlicht werden. Die weitreichenden Folgen, die vom einfachen Diebstahl, über den organisierten Leichenhandel bis hin zu Mord im Dienste der Wissenschaft reichen, werden in ihrem kulturellen Kontext untersucht, um so einen differenzierteren Blick auf die Geschehnisse und Bedingungen in der Zeit von 1800--1850 in Gro?britannien zu erm?glichen, der über das Verdammen unreflektierter Halbwahrheiten hinausgeht.