Worte zum Abschied von Dieter Grimm, 31.01.2007
Worte zum Abschied von Dieter Grimm
Zu den eindrücklichsten Theatererinnerungen des Schülers Christoph Markschies, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, lieber Dieter Grimm, geh?rt eine Aufführung von Kleists ?Zerbrochenen Krug“ im Berliner Schlo?parktheater im November 1980. Eindrücklich ist mir die Aufführung bis heute geblieben, weil Bernhard Minetti den Gerichtsrat Walter spielte und die Rolle des gestrauchelten Dorfrichters Adam eher bla? besetzt war. Durch diese Entscheidung des Regisseurs Hans Lietzau verschob sich der uns allen vermutlich vertraute Schwerpunkt des Stückes weg vom unf?higen Dorfrichter, dessen Akten in der Registratur liegen ?wie der Turm von Babylon“, auf den Gerichtsrat, der aus Utrecht kommt, um ?die Rechtspfleg auf dem platten Land“ zu verbessern. Unverge?lich, wie Minetti mit bekannt heiserer Stimme zu Beginn deklamierte: ?Doch mein Gesch?ft auf dieser Reis ist noch / Ein strenges nicht, sehn soll ich blo?, nicht strafen“.
Und damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind wir unversehens bei Dieter Grimm angelangt, vom Schlo?parktheater auf die Bühne der Humboldt-Universit?t gewechselt, in der es gelegentlich auch eher kom?diantisch zugeht, selbst wenn’s die Protagonisten für Wissenschaft halten. Warum aber haben wir unversehens die Bühne gewechselt? Weil, lieber Herr Grimm, unversehens Akzente verschoben werden, wenn sie auftreten und sich bisherige Sichtweisen auf die Schwerpunkte sich sehr deutlich verschieben. Ich erinnere mich nicht nur sehr genau an die erw?hnte Kleist-Aufführung des Jahres 1980, sondern auch an den Rektoratswechsel im Berliner Wissenschaftskolleg im Jahre 2001. Der neue Rektor sprach, deutlich anders als sein Vorg?nger, jedenfalls nüchterner und warb für eine Wissenschaft in der Tradition der K?nigsberger Aufkl?rung, nüchtern, bescheiden, streng an Kriterien reiner Rationalit?t orientiert und doch leidenschaftlich, selbstbewu?t und gütig. ?Sehn soll ich blo?, nicht strafen“.
Grimms S?tze anl??lich seiner Einführung waren kurz. Und pr?zise. Sind kurz und pr?zise bis heute. Da zieht sich eine Linie von der rechtshistorischen Dissertation über ?Solidarit?t als Rechtsprinzip“ bis hin zu jüngsten Ver?ffentlichungen, beispielsweise einem Beitrag in der Festschrift zum fünfundzwanzigsten Jubil?um des Wissenschaftskollegs aus dem vergangenen Jahr. Freilich haben sich die Gegenst?nde des Aufkl?rers Grimm gewandelt: W?hrend der juristische Laie im Pr?sidentenamt sich vor der Lektüre unter dem Titel ?Solidarit?t als Rechtsprinzip“ zun?chst ein Votum des Alt-Cusaners für eine katholisch grundierte und sozialdemokratisch zugespitzte Rechtsordnung vorstellt und erst am Ende seiner Lektüre bemerkt, da? entsprechend Grimmscher Natur grunds?tzliche Bemerkungen in dieser rechtshistorischen Arbeit nur sehr in Andeutungen und am Schlu? erfolgen, nimmt der Rektor des Wissenschaftskollegs rund drei?ig Jahre sp?ter sehr grunds?tzlich Stellung: Er beobachtet beispielsweise eine grunds?tzliche Verwissenschaftlichung der Welt in den fünfundzwanzig Jahren seit der Gründung jener Einrichtung, der er als Rektor vorsteht: ?Mit der Verwissenschaftlichung der Welt ist der Umstand gemeint, da? die verschiedenen Systeme funktional differenzierter Gesellschaften infolge der fortschreitenden wissenschaftlichen Entschlüsselung der Natur und der daraus resultierenden Beeinflu?barkeit der Verh?ltnisse zur Erfüllung ihrer jeweiligen Funktion verst?rkt auf die Leistungen des Wissenschaftssystems angewiesen sind“. Dieser Satz ist zwar pr?zise, aber nun nicht gerade kurz – aber er enth?lt natürlich auch mehr Bielefeld als Kassel oder Karlsruhe, viel Luhmann, aber eben auch Grimm.
Interessant sind solche programmatischen S?tze Dieter Grimms aus den Jahren in der Wallotstra?e schon deswegen, weil man ja mit gutem Grund auch das exakte Gegenteil behaupten k?nnte, also die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre als zunehmende Entwissenschaftlichung der Welt beschreiben k?nnte, als Zeit, in der das internetgestützte Halbwissen die Gesellschaft, ihre Entscheidungstr?ger und leider auch die Universit?ten eroberte – jüngst hat ein kluger Kopf behauptet, Humboldt habe in einer programmatischen Rede den reinen Brotstudenten vom philosophischen Kopf unterschieden und der Universit?t die Aufgabe zugewiesen, letzteren auszubilden, war nun aber eben Humboldts enger Freund Schiller, der dies in seiner akademischen Antrittsrede sagte. Grimms zitierte programmatische ?u?erungen sind nicht nur ein Rückblick auf fünf erfolgreiche Jahre am Berliner Wissenschaftskolleg, für das man ja ganz gewi? keine wachsende Dominanz des Halbwissens wird behaupten k?nnen – nein, sie sind ein Einblick in die Denkstrukturen des Aufkl?rers Grimm. Das Denken und die Wirklichkeitswahrnehmung des wirklichen Aufkl?rers, also eines Kant in der juristischen Profession, hat notwendigerweise ein kontrafaktisches Element, ein Element strenger normativer Kritik an der Wirklichkeit, das im Modus der Wirklichkeitsbeschreibung daherkommt. Und zugleich doch auch Rechenschaft von eben dieser Kontrafaktizit?t ablegt und damit zeigt, da? selbstverst?ndlich auch die strengen methodischen Postulate der K?nigsberger Aufkl?rung verinnerlicht sind: ?der Umstand …, da? die verschiedenen Systeme funktional differenzierter Gesellschaften … verst?rkt auf die Leistungen des Wissenschaftssystems angewiesen sind“, womit ja keineswegs ausgemacht ist, da? sie dieselben auch nutzen. Grimms Bemerkungen schlie?en also keineswegs aus, da? neben dem normativen Anspruch zunehmender Verwissenschaftlichung die Wirklichkeit zunehmender Entwissenschaftlichung steht – und damit h?tte ich einen Bogen zur Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Normen geschlagen, die am Ende der Arbeit über ?Solidarit?t als Rechtsprinzip“ so eindrücklich knapp aufgeworfen wird.
Da? ein unbestechliches Insistieren auf der Verwissenschaftlichung von zentralen Fragen einer Gesellschaft Dieter Grimm auszeichnet, bedarf keiner weiteren ausführlichen Bemerkungen: Staatsaufgaben. Die Bedeutung der Verfassung. Marktversagen. Sozialgestaltung. Europ?ischer Verfassungsvergleich. Aber nicht nur unbestechliches Insistieren, sondern eine h?chst eindrückliche Einsicht in die Grenzen aller Bemühungen um Rationalit?t. Ein letztes Beispiel: Die planende und lenkende Staatst?tigkeit des modernen Wohlfahrtsstaates weist nach Grimm ?einen derartig hohen Grad an Komplexit?t, Situationsabh?ngigkeit und Ungewi?heit auf, das sie gedanklich nicht vollkommen vorweggenommen und folglich auch nicht abschlie?end normativ determiniert werden kann“. Da kann ich nun getrost zum Anfang meiner Bemerkungen zurückkommen: Der Gerichtsrat Walter in Kleists Lustspiel macht – allzumal, wenn er von Bernhard Minetti gespielt wird – deutlich, da? solcher Verzicht auf abschlie?ende normative Determination die vielleicht h?chste Form aufgekl?rter Rechtswissenschaft und nicht nur der aufgekl?rten Rechtswissenschaft, sondern aufgekl?rter Wissenschaft überhaupt ist. Und noch etwas zugespitzter, was Sie dem Theologen im Pr?sidentenamt nachsehen m?gen: Die gro?e Gabe aufgekl?rter Demut, die über die pietistische Pr?gung des K?nigsberger Collegium Friedericianum zu einem Charakteristikum einer ganzen Richtung deutscher und europ?ischer Philosophie geworden ist.