Verleihung der Ehrendoktorwürde an Marcel Reich-Ranicki
Gru?wort des Pr?sidenten der Humboldt-Universit?t zu Berlin vom 16.02.2007
?Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“, Herr Staatsminister, Frau Senatorin, Herr Senator, Exzellenzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren und natürlich und insbesondere verehrter, lieber Herr Wapnewski und verehrter, lieber Herr Reich-Ranicki – ?Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“ lautete das Motto des 1827 gegründeten literarischen Vereins ?Tunnel über der Spree“; das ?Tunnelarchiv“ z?hlt zum kostbaren Altbestand unserer Universit?tsbibliothek. Im Sommer 1843, als Vierundzwanzigj?hriger, wurde der Apothekergehilfe Theodor Fontane in diese ehrenwerte Gesellschaft eingeführt, die Geibel reichlich respektlos als ?Kleindichterbewahranstalt“ apostrophierte und fand unter dem Tunnelpublikum allerlei wichtige Gespr?chspartner. Gleichwohl schreibt er in ?Von Zwanzig bis Drei?ig“ ziemlich respektlos: ?Der Tunnel, soviel ich an ihm nachzurühmen habe, war doch an vielen Sonntagen nichts weiter als ein Rauch- und Kaffeesalon, darin, w?hrend Kellner auf und ab gingen, etwas Beliebiges vorgelesen wurde. War es eine Schreckensballade, darin Darnley in die Luft flog oder Maria Stuart enthauptet wurde, so ging die Sache, setzte sich aber ein Liebeslieddichter hin, um mit seiner vielleicht pimprigen Stimme zwei kleine Strophen vorzulesen, so traf es nicht selten ein, da? der Vorlesende mit seinem Liede schon wieder zu Ende war, ehe noch der Kaffeekellner auf das ihm eingeh?ndigte Viergroschenstück sein schlechtes Zweigroschenstück … herausgegeben hatte“.
Der Kirchenhistoriker im Pr?sidentenamt ist kein Germanist und so interessiert ihn heute vormittag natürlich nicht der ?Tunnel über der Spree“ und eigentlich auch nicht Fontane, sondern jenes Motto des literarischen Vereins, dem er lange Jahre mit wechselnder Intensit?t angeh?rte: ?Unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“. Taugt das Motto des Vereins auch als Leitspruch für den heutigen Festakt? Ganz gewi? droht ?unendliche Wehmut“, wenn man an das ?Wunder Berlin“ denkt, jene lebendige Metropole des Jahres 1929, in die der Schüler Marcel Reich-Ranicki geschickt wurde und die er so einfühlsam in seinen Erinnerungen portraitiert. Zirkus Sarrasani auf dem Tempelhofer Feld, der Doktor Knick vom Werner von Siemens-Realgymnasium und das Geb?ude, ?das mir“, so Reich-Ranicki, ?das teuerste in Berlin wurde und bis heute geblieben ist“ – Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, Jürgen Fehling, Gustaf Gründgens, Werner Krauss, Emil Jannings. ?Unendliche Wehmut“: Die Hülle des Schauspielhauses steht noch, aber das darin befindliche preu?ische Staatstheater hat kurz vor Toresschlu? die SS angezündet und nach einem ?sthetisch nicht sehr überzeugenden Innenausbau der achtziger Jahre nennt man das Ganze jetzt ?Konzerthaus“, um die Touristen nicht zu verwirren. ?Unendliche Wehmut“ aber auch über dieses Haus, ebenfalls zerst?rt und im Inneren ?sthetisch nicht sehr überzeugend wiederaufgebaut. Der Student schreibt am 10. M?rz 1938: ?Ich bitte um Aufnahme als ordentlicher Student an die Philosophische Fakult?t“. Die Universit?t lehnt auf Weisung der Zentralstelle für das Studium der Ausl?nder in Preu?en unter Datum vom 7. April 1938 ab und im Gespr?ch mit dem Abgelehnten nimmt der Rektor, der brandenburgische Landeshistoriker Willy Hoppe, zu den üblichen Ausreden Zuflucht. Unendliche Wehmut darüber, da? diese Universit?t des Mittelpunktes, ein Ort von Wahrheit und Freiheit, sich den deutschen Diktaturen so bedenkenlos, so umfassend auslieferte. ?Zeit ist Balsam und Friedensstifter“ hei?t es bei Fontane und manche haben gefragt, ob der Ehrendoktor Wiedergutmachung sei. Aber an dieser Stelle darf kein Balsam auf die Wunden gestreut werden und kein falscher Friede proklamiert werden; viel zu bedroht sind Wahrheit und Freiheit in der Wissenschaft, als da? man die braunen und roten Jahre für einen 三亿体育·(中国)官方网站sunfall der alma mater Berolinensis ausgeben dürfte. Und wieder gut machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man erst recht nichts. Historische Schuld ist keine Bankschuld, die durch ein paar Taler Wohlverhalten getilgt werden kann – der Kirchenhistoriker erinnert an die gescheiterte ?konomisierung der Sündenlehre im Mittelalter, der Zeithistoriker an den überaus t?richten Satz aus dem jüngsten Historikerstreit, da? drei?ig Jahre Wohlverhalten in der Demokratie doch wohl die Problematik der Volkstumsthesen bestimmter K?nigsberger und Posener Historiker getilgt h?tten. Nein, getilgt werden kann nichts von dem, was damals geschah und vergessen darf erst recht nichts davon. Und indem wir hier in diesem Hause erinnern und dabei nicht nur an die Galerie der Nobelpreistr?ger denken, setzten wir ein Zeichen dafür, da? wir uns der Verantwortung für die schreckliche Zeit bewu?t sind und daher auch wissen, worin unsere Verantwortung heute besteht.
Also: Ja, gewi?, ?unendliche Wehmut“. Aber auch ?ungeheuere Ironie“? Ja, hoffentlich auch das. Wenn n?mlich der heutige Festakt verhindert, da? wir uns wohlgef?llig darin beruhigen, da? nun nach so vielen Jahren ein ungerechterweise abgelehnter Student sein Examensdiplom nachgereicht bekommt und nun alles gut geworden ist. ?Ungeheuere Ironie“ kommt dann auf, wenn wir heute, so wie das der Berliner Student S?ren Kierkegaard kritisch gegen Hegel postulierte, mit Hilfe der Ironie eine feierliche Erstarrung vermeiden und uns der st?ndigen Bedrohung von Wahrheit und Freiheit in der Wissenschaft bewu?t bleiben. Ich mu? freilich heute das von Jean Paul und Heinrich Heine geforderte Ausrufzeichen zur Markierung von ironischen Wendungen nicht setzen; Peter Wapnewski, der uns dankenswerterweise die Laudatio halten wird, und Marcel Reich-Ranicki selbst sind solche Meister der Ironie, sind ein Gestalt gewordener point d’ironie.
Also bleiben wir doch, verehrte Damen und Herren, beim ?Tunnel über der Spree“ und, das mu? ich wohl kaum ausführen, bei Fontane, bei Fontanes Wehmut und Ironie. Theodor Storm, zeitweilig ebenfalls ein Teil des Tunnelpublikums, beklagte in einem Brief an seinen Namensvetter Fontane aus dem Jahre 1853, da? in Berlin im ganzen ?die goldene Rücksichtslosigkeit“ fehle, die allein den Menschen innerlich frei macht und die nach seiner Ansicht das letzte und h?chste Resultat jeder Bildung sein mu?. Sie haben, verehrter, lieber Herr Reich-Ranicki, einst an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universit?t die durch das Blech von Dienstmarken und Koppelschl?ssern repr?sentierte menschenverachtende Rücksichtslosigkeit eines totalit?ren Systems erleben müssen und leben uns allen jene ganz andere, aufgekl?rte ?goldene Rücksichtslosigkeit“ des Kritikers vor, der auch noch über das schlechteste Buch goldene Worte zu formulieren vermag, die belehren und erfreuen. Da? Sie die Ihnen angetragene Ehrendoktorwürde angenommen haben und dieses von seiner Geschichte gezeichnete Haus nach so vielen Jahren wieder betreten haben, da? Peter Wapnewski nach langen Jahren an der Freien und der Technischen Universit?t nun auch die unsrige mit goldenen Worten ziert, bewegt uns sehr. ?So voller Lust, so voller Dank“.
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Christoph Markschies
Pr?sident der Humboldt-Universit?t zu Berlin